Offener Brief an denkende

 

Menschen 2012

 

 

Emir Kusturicas Film "Underground" beginnt mit einem Angriff der deutschen Luftwaffe auf Belgrad im Jahre 1941. Die ersten Bomben fallen auf einen Zoo. Es ist Frühstückszeit und der Tiger wird gerade gefüttert. Aber er frisst nicht, da er bereits spürt, dass die Flugzeuge kommen. Eine Bombe trifft einen Teich voller Gänse. Ein verängstigtes Affenbaby springt dem Zoowärter auf den Arm. Der verletzte Tiger kann nicht mehr aufstehen.

Später irrt der Zoowärter mit Äffchen und Pony in den Trümmern umher, und sein Taufpate versucht ihn zu trösten. Er hat eine schwarze Katze mitgebracht, und putzt sich mit dieser Katze seine schwarzen staubigen Schuhe ab, während er dem Zoowärter etwas Geld gibt. "Kauf deinem Äffchen Milch und hör auf zu weinen."

Der Film gewann 1995 die Goldene Palme in Cannes. Dem Regisseur ging es nicht um Tiere, sondern um Menschen im Krieg. Die Szene zeigt aber auch, wie vielfältig und irrational unser Verhältnis zu Tieren ist. Einerseits lieben wir sie und es ist uns eine Selbstverständlichkeit, dass wir ihnen helfen möchten, wenn sie leiden oder in bedrohter Lage sind. Und doch gebraucht man sie gleichzeitig unbedacht für Eigeninteressen, die zumeist kulinarischer Art sind, und schenkt ihrem Schmerz dann keine Beachtung mehr, wenn wir daraus einen Vorteil ziehen – nur schon in Form von ein paar Sekunden angenehmem Geschmacksempfinden auf der Zunge.

Tief in uns drin stört uns aber die Vorstellung, dass ein Mann, der Katzen als Schuhbürsten benutzt, sich gleichzeitig um Affenbabys sorgen kann. Da existiert eine ethische Diskrepanz. Man möchte sich schliesslich ja auch keine Aufnahme mit Liebeslyrik anhören, die von A.Hitler gesprochen wurde.

 

Dabei handelt dieser Taufpate nicht anders als ein Kind, das sich bei McDonald's ein "Happy meal" bestellt und ein Stück Burgerbrötchen aufhebt, um Tauben zu füttern. Das Kind hat beschlossen, dass einige Tiere liebenswert sind und andere - die man zu Burgern verarbeitet - zwar auch liebenswert seien, aber eben in dem Sinne, dass sie schmecken. Sie dienen einem Zweck des Menschen - sie schenken Geschmackskitzel. Der Mensch hat sie zu diesem Daseins-Zweck bestimmt.

Auf Ernährung kann niemand verzichten, aber der Mensch käme biologisch auch ohne Fleisch aus, und zwar jeder Mensch. Mit einer Katze könnte man zwar Schuhe putzen, aber man muss das nicht tun. Die Funktionen, die wir Tieren zuschreiben, sind von uns willkürlich bestimmt, auch wenn Tiere diese Funktionen seit ganz vielen Generation erfüllen und wir uns an diese Art von Gebrauch von ihnen gewöhnt haben.

Das McDonald's-Kind hat natürlich nichts mit dem Kopf beschlossen. Ihm ist kaum bewusst, dass es eine Kuh isst, beziehungsweise ein Stück Fleisch, in dem Hunderte von Kuhteilen zusammengehackt sind. Das Kind isst einen Burger so, wie es einen Apfel essen würde, es weiss nichts davon, dass diese Tiere nur zum Verzehr gezüchtet wurden, dass ihr Leben ein trauriges war, und von Angst durchdrungen. Das Kind weiss nicht, dass diese Kühe gegen ihren Willen einfach getötet wurden, weil eine bestimmte Geschmacksvorliebe den Menschen wichtiger erscheint als das Leben dieser Kühe. Es wird ihm nicht gesagt, dass der Hamburger, den es isst, Teil eines empfindsamen Wesens war, an denen sich Kinder normalerweise erfreuen. Es ist sich nicht gewahr, dass dieses „Lebensmittel“ kurz zuvor noch ein Eigenleben hatte, welches abrupt endete - indirekt wegen der Bestellung des Hamburgers, den es gerade in der Hand hält.

Das Kind wusste es nicht. Aber du weiss es. Du kannst es wissen.

Willst du es auch wissen?

 

Menschen geniessen es, Fleisch zu essen und empfinden gleichzeitig Zuneigung zu Tieren.

Der Zwiespalt, Tiere einerseits zu lieben und sie dennoch für einen Gaumenkitzel töten zu lassen, und zu verspeisen, wird durch das Nicht-Nachdenken-Wollen bewerkstelligt.

 

Ja, die Tiere, die im Kühlregal liegen, sind schon tot. Sie durften aufgrund unserer Essenslust nicht ihr natürliches Leben leben. Aber die Nachfrage regelt das Angebot. Wenn niemand mehr Fleisch kaufen will, würden auch keine Tiere mehr geschlachtet werden, um die Regale wieder aufzufüllen.

 

In diesem Jahr ist der Vegetarismus zu einem Modetrend geworden. Er wurde zu einer Spass- und Lifestyle-Haltung.

Das Motto heisst nun: „Weniger Fleisch, der Gesundheit und Umwelt zuliebe!“

Dafür wollen wir besseres Fleisch - bio, öko, und nachhaltig!

Im Zentrum dieser verwirrenden und verharmlosenden Sprücheklopferei steht der Begriff "Teilzeitvegetarier". Damit wird ein Mengen-Problem suggeriert, wo es ein ethisches Problem gibt: Das Problem ist nämlich nicht, dass ZUVIELE Tiere für unseren Gaumenkitzel getötet werden, sondern dass ÜBERHAUPT Tiere für unseren Gaumenkitzel getötet werden!

 

Das Problem bei Sklaverei und Frauendiskriminierung war ja auch kein Mengenproblem! Die Aufforderung, weniger Sklaven und Frauen zu misshandeln oder weniger Kinder zu vergewaltigen wäre irgendwie obszön. Denn eine einzige Misshandlung ist bereits eine nicht zu tolerierende Zuwiderhandlung. Genauso geht es auch nicht um die Forderung, weniger Fleisch zu essen, sondern um die gänzliche Einstellung des Tier-Körper-Teile-Essens, was eine Übergehung der natürlichen Interessen der Tiere darstellt.

 

"Teilzeitvegetarier" ist die gleiche ethische Monstrosität wie "Teilzeitmenschenrechtler"! So etwas wie einen Teilzeitmenschenrechtler gibt es nämlich nicht. Entweder man ist Menschenrechtler oder man ist es nicht. Jemand, der sich nur für eine partielle Einstellung von Menschheitsverbrechen einsetzt, ist gar kein Menschenrechtler.

Nicht die zahlenmässige Reduktion oder Einschränkung der Unterdrückung von Schwarzen und Frauen wurde gefordert, sondern immer nur die

ABSCHAFFUNG der Sklaverei und BEENDIGUNG der Diskriminierung!

 

Die Idee des Vegetarismus - den Tieren ihren eigenen Lebenszweck zuzugestehen und nicht nur den von Menschen ungefragt auf sie übertragenen - gehört zum unverlierbaren zivilisatorischen Gedankengut der Menschheit. Und sie hat das gleiche Gewicht und den gleichen ethischen und politischen Stellenwert wie jene Ideen, die zur Überwindung der Sklaverei geführt haben.

Wenn wir von der Zahl der Betroffenen ausgehen, so ist die vegetarische Bewegung wichtiger als jede vorangegangene Befreiungsbewegung: Denn keine Gruppe unterdrückter Menschen erreichte je auch nur annähernd die Zahl der Tiere, die vom Menschen jährlich gequält und umgebracht werden.

Die Tiere sprechen nicht, ihr Leiden ist für uns stumm. Die dringliche Bitte in ihrem Namen aber lautet, den eigenen Fleisch-Verzehr ganz einzustellen.